Page 30 - Amag-KSB-Pegnitz 2020
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3.2 Das Wachstum der Fabrik in Pegnitz zwischen 1890 und 1914
3.2.1 Arbeiterpioniere in Pegnitz: „Oberpfälzer“, „Böhmer“ und „Sachsen“
Im Zusammenhang mit den in der Amag in Pegnitz benötigten Arbeitskräften wird bei
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von Klass auf „Oberpfälzer“ und „Böhmer“ verwiesen, wobei die Arbeiter aus der
Oberpfalz besonders belastungsfähig seien. Der Autor ging vermutlich davon aus,
dass Pegnitz im benachbarten Regierungsbezirk Oberpfalz liegt. Von Bedeutung
dürfte das relativ hohe Angebot von Arbeitskräften aus Pegnitz und dem Umland, zu
dem neben oberfränkischen auch oberpfälzische Dörfer zählten, gewesen sein. Hier
wie dort sorgte das Bevölkerungswachstum dafür, dass der Industrie ein großes An-
gebot von Arbeit suchenden jungen Männern zur Verfügung stand. Die erste Genera-
tion dieser einheimischen Fabrikarbeiter konnte meist noch keine berufliche Qualifi-
kation nachweisen, so dass sie über die kärgliche Existenz eines Tagelöhners kaum
hinauskamen.
Die Zahl der Werkswohnungen in Pegnitz war ebenso beschränkt wie der Miet-
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markt. Wie unten gezeigt wird, mussten Fachkräfte aus weit entfernten Regionen
angeworben werden, und diese brauchten vorrangig eine Unterkunft. Die „Nahpend-
ler“ mussten dann – oft zu Fuß – zwei Mal täglich mehrere Kilometer zurücklegen.
Die lange Wegstrecke und die lange Arbeitszeit brachten es mit sich, dass vor allem
in den Wintermonaten beim Weg zur Arbeit und am Abend zurück zur Wohnung völ-
lige Dunkelheit herrschte. Konnte der Weg nicht zurückgelegt werden – geräumte
Straßen im Winter gab es nicht, und nicht immer erlaubte die körperliche Verfassung
den langen Marsch – , drohte Verdienstausfall. Erst nach und nach erschloss die
staatliche Post mit einem Busliniennetz den öffentlichen Nahverkehr mit dem Um-
land, und der sich entwickelnde Individualverkehr über Fahrrad und Kleinkraftrad hin
zum Pkw verminderte zunehmend die Wegzeiten. Ein größeres Angebot an Miet-
wohnungen entstand in Pegnitz erst nach 1920 durch die Bautätigkeit der Stadt und
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der Baugenossenschaft.
Bei den oben genannten „Böhmern“ handelt es sich um Arbeiter aus dem (noch) ös-
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terreichischen Böhmen. Diese seien „wegen ihrer Geschicklichkeit geschätzt“ . Dies
zielt auf den Bedarf an Fachkräften, die es vor Ort nicht gab. In Böhmen mit seiner
alten Hüttentradition gab es die benötigten Gießereifachleute (Modellschreiner, For-
mer, Gießer). Im Stadtarchiv Pegnitz findet sich die Urkunde über die Gründung
eines Böhmischen Bildungs- und Unterhaltungsvereins ‚Karl IV.‘ im Januar 1902
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(Abb. 22). Die dort genannten sieben Vereinsfunktionäre waren sechs Modell-
schreiner und ein Former, sie alle arbeiteten in der Pegnitzhütte.
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Gert von Klass, 100 Jahre, 27.
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Vgl. Abschnitt 3.3 und zu den Werkswohnungen Abschnitt 11.1.
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Vgl. Abschnitt 4.3.2.5. Am Ende des 20. Jahrhunderts verflüchtigte sich weitgehend der Wunsch,
möglichst in fußläufiger Entfernung zum Arbeitsort zu wohnen. Die „Suburbanisierung“ zeigt sich auch
in Pegnitz und seinem Umland. Ein hoher Lebensstandard und die Ausprägung eines intensiven Indi-
vidualverkehrs förderten die Anreize, wieder auf „das Land“ und meist in das eigene Haus zu ziehen.
Das Ergebnis ist eine Zersiedelung, die sich vor allem in den Pendlersiedlungen in den einstmals bäu-
erlich geprägten Ortschaften rund um Pegnitz zeigt. Für die Firma stellte sich zunehmend das Prob-
lem, ausreichend Parkplätze für die Mitarbeiter bereit zu stellen. Im aktuellen Firmengrundriss (An-
hang 8) erkennt man, dass ein erheblicher Teil des Werksareals dafür verwendet wird. Zu Pendlern
vgl. Anmerkung 269 in Abschnitt 7.3.
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Gert von Klass, 100 Jahre, 27.
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Bemerkenswert ist der gewählte Vereinsname: Kaiser Karl IV. (1316 – 1378) war zugleich böhmi-
scher König. Zu ihm hatte Pegnitz eine besondere Beziehung, weil er das Pegnitzer Stadtrecht bestä-